Otto Müller
Mediziner, Pionier offener Heilstätten für Nervenleidende in Deutschland
(1832 – 1900)
Otto Müller war ein Mediziner, der in seiner Heilanstalt für „Nervenleidende und Erholungsbedürftige“ in Blankenburg Neuland bei der Behandlung von Nervenleiden betrat. Seine und weitere offene Therapieangebote im frühen Stadium der Krankheiten waren ein wichtiger Baustein der Entwicklung zur Kurstadt.
Lesezeit: 6 Minuten
Otto Müller entstammte der Familie eines Forstbeamten in Helmstedt, dessen familiäre Wurzeln in Blankenburg lagen. 1832 geboren, verließ Otto Müller Helmstedt nach dem Abitur, um in Göttingen und Berlin zu studieren. In Berlin fand er Interesse an der klinischen Neurologie als wissenschaftliche Disziplin.
Der junge Mediziner wurde 1856 als Zweiter Arzt in einer Klinik in Bendorf bei Koblenz angestellt. 1858 begleitete er den kranken Neffen des russischen Marineministers von Wrangel auf dessen Reise nach St. Petersburg. Bis 1860 arbeitete er dort als Arzt in einer Klinik.
Auf einer Reise durch England lernte er einen – im Vergleich zu Deutschland – freieren Umgang mit geisteskranken Patienten kennen. Nach seiner Rückkehr nahm Müller für einige Monate eine Tätigkeit an der Anstalt von Heinrich Damerow in Nietleben bei Halle/ Saale auf. Dort vertiefte er seine medizinischen Kenntnisse.
Bereits dabei reifte sein Entschluss, selbst eine Heilanstalt für die „Behandlung beginnender Formen von Gemüths- und Geistesstörung“ zu gründen, wie es in den Quellen heißt. Anfang November 1862 eröffnete er in seinem Elternhaus in Helmstedt eine Privat-Heilanstalt. Sie war die erste Einrichtung dieser Art im Land Braunschweig. Bis dahin existierte lediglich in der Landeshauptstadt und später in Königslutter eine staatliche „Irrenanstalt“, wie derlei Einrichtungen damals genannt wurden.
Ab etwa 1864 dachte Otto Müller über eine Verlegung seiner Privat-Anstalt nach. Dafür hatte er schon ein Grundstück in Helmstedt ausgesucht. Überliefert ist, dass ihm der aus Blankenburg stammende und später in Braunschweig ansässige Arzt Oswald Berkhan jedoch den Erwerb eines Grundstückes am Thie nahegelegt habe.
Es befand sich übrigens im Besitz des vormaligen Blankenburger Bürgermeisters Carl Löbbecke, der in seiner Amtszeit 1850 bis 1859 die touristische Erschließung der Stadt vorangetrieben hatte. U.a. auf der Teufelsmauer ließ er 1853 den noch heute beliebten Kammweg (heute Löbbecke-Stieg mit Löbbecke-Felsen) anlegen.
Für die Stadt als Anstalts-Standort sprachen auch eine landschaftlich schöne und zugleich geschützte Lage in „freundlicher“ Umgebung, wie damals geschrieben wurde. Zudem waren für die Ansiedlung einer Heilanstalt die schon bestehenden Blankenburger Angebote in Sachen Gesundheit nicht unwichtig. Es gab zu der Zeit zum Beispiel Brunnenkuren und die professionelle Vermarktung von Heilkräutern bei Apotheker Ernst Hampe. Die Stadt war von Erholung suchenden Ruheständlern geprägt. 1856 hatte ein Kiefernnadelbad in der Mauerstraße eröffnet. Damit waren Grundlagen für eine weitere Entwicklung in Richtung Gesundheits-Tourismus, wie man heute sagen würde, gegeben. All das sprach für eine Verlegung nach Blankenburg und so eröffnete er am 5. Oktober 1865 am Thie seine neue Anstalt für „Nervenleidende und Erholungsbedürftige“
Der Mut für diese Neugründung zahlte sich aus. Sie wurde zu einer Initialzündung sowohl für die Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland als auch zu einem Impuls für das Blankenburger Kurwesen und die Entwicklung der gesamten Stadt und des Landkreises Blankenburg.
Otto Müllers Anstalt gilt heute als älteste offene Heilstätte für Nervenleidende in Deutschland. Mit der wenige Monate später 1866 in Bendorf am Rhein von Adolph Erlenmeyer (1822-1877) eröffneten Anstalt gilt sie als ein Vorreiter offener psychiatrischer Einrichtungen.
Bis dahin wählten Menschen mit weniger starken Symptomen meistens einen behandlungsfreien Landaufenthalt, wodurch sich ihr gesundheitlicher Zustand kaum besserte. Patienten wurden erst dann behandelt, wenn die Krankheit schon fortgeschritten war. Vorher wurden sie mehr oder weniger nur weggeschlossen, ohne medizinische Betreuung.
Das kritisierte Müller zunehmend und setzte auf einen offeneren Umgang mit der Erkrankung, eine frühzeitige Behandlung und medizinische Betreuung.
Vornehmlich behandelte Krankheitsbilder waren damals bei Männern sogenannte hypochondrische und melancholische Verstimmungen, bei Frauen Hysterie und allgemeine Nervenschwäche. Müller behandelte durch eine breit aufgestellte Therapie. Dazu gehörten „Medicamente, Molken, Mineralwasser, Kräutercuren, warme und kalte Bäder, Elektricität u.s.w.“, wie es in Berichten von damals heißt.
Die Behandlung führte nicht nur zu medizinischen Erfolgen bei den Patienten. Außerhalb der Anstalt wuchs gleichzeitig die Attraktivität der Stadt Blankenburg.
Es wurde viel getan, um die medizinische Behandlung der Patienten mit einem „schönen“ Kuraufenthalt in der Stadt Blankenburg zu verbinden. Es entwickelten sich Angebote, die ermöglichten, dass Erholungs- oder Heilaufenthalt nicht nur auf den Sommer begrenzt bleiben mussten. In der Kuranstalt selbst sorgte Otto Müller für Angebote mit musikalischen Vorträgen, für Lektüre und für Gesellschaftsspiele – immer mit dem therapeutischen Ansatz einer Beschäftigung in Gemeinschaft.
Nach der Reichsgründung 1871 kam es durch staatliche Hilfen unter Herzog Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg (Amtszeit 1830–1884) und durch den Eisenbahnanschluss von Halberstadt aus, zu einem weiteren Aufschwung. Blankenburgs Villenviertel entstanden – viele waren Altersruhesitze, oft mit Pensionen für Kurgäste ausgestattet. Mittendrin entstand am Thie eine großzügig gestaltete Badeanstalt.
1874 kam der Arzt Paul Rehm in die Heilanstalt und wurde Otto Müllers Partner in der späteren „Müller-Rehmschen Heilanstalt“. Beide Ärzte ergänzten sich in der Leitung und als Eigentümer, während das damals neue Prinzip der offenen Heilstätte inzwischen deutschlandweit Schule machte. In Blankenburg selbst eröffnete Oscar Eyselein 1876 im Areal des heutigen Stadtparks an der Gartenstraße eine weitere Einrichtung – die Pension und Heilanstalt für Nervenleidende. 1878 beginnt der Nervenarzt Rudolf Gnauck (später Ehemann von Elisabeth Gnauck-Kühne) seine Ausbildung bei Otto Müller. Gnauck öffnete später, 1883, ein Kurhaus in Pankow bei Berlin. Im Jahr 1885 waren deutschlandweit etwa 30 Anstalten nach dem Vorbild der Müllerschen Anstalt in Blankenburg registriert.
Für Blankenburg wurde die Eröffnung und Erweiterung offener psychiatrischer Einrichtungen zum wichtigsten Entwicklungsschub des Fremdenverkehrs und damit auch – neben der Industrialisierung – zu einem Motor der kommunalen Entwicklung. 1890 wurden allein im Monat Juni, einer Erhebung des Blankenburger Museumsleiters Klaus Schröter, zufolge, Gäste aus allen Gegenden Deutschlands begrüßt, sowie auch aus Böhmen, Dänemark, England, Holland, Italien, Kurland, Norwegen, Österreich, Polen, Russland, Schweden und den USA. Sie alle lockte ein freundliches und „ansprechendes Asyl“ zur Kur und Erholung mit dezentraler Unterbringung in der gesamten Stadt.
In jenen Jahren übergab Otto Müller die Leitung der Anstalt nach und nach an Paul Rehm. Müller selbst betätigte sich in den 1880er Jahren politisch als Braunschweigischer Landtagsabgeordneter. 1900 starb er und wurde auf dem damals noch neuen Blankenburger Waldfriedhof bestattet.
Heutige Spuren
Grabstelle auf dem Waldfriedhof
Das Projekt
Der Blankenburger Waldfriedhof ist mit seinen Grabstätten ein Kulturdenkmal und regionaler Spiegel deutscher Geschichte, die in ihrer Zeit von hier lebenden Menschen getragen und in vielen Fällen aktiv mitgestaltet wurde.
Die Epochen und Ereignisse ließen sich oft an mehreren Personen abbilden. Bei deren Auswahl handelt es sich um eine notwendige Einschränkung. Die Inhalte sind von Schülerinnen und Schülern und geschichtlich interessierten Bürgerinnen und Bürgern zusammengetragen worden und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie folgen den Grundsätzen, geschichtliches Interesse zu wecken und die jeweiligen Lebenswege, Prozesse und Entwicklungen aus dem Blickwinkel der freiheitlich demokratischen Grundordnung darzustellen.
Das Projekt ist in Kooperation mit dem Land Sachsen-Anhalt, der Stadt Blankenburg und dem VHS-Bildungswerk entstanden. Regionale Bezüge und Hinweise auf weiterführende Quellen sollen motivieren, sich Geschichte der engeren Heimat, aber auch deutsche und europäische Geschichte zu erschließen.
Für weiterführende Hinweise und etwaige Korrekturen ist das Team Friedhofsprojekt offen. Das Stadtarchiv steht als Ansprechpartner zur Verfügung.
Quellen
„Mehr Freiheiten in die geschlossenen Anstalten!“ – Blankenburg (Harz) als psychiatrischer Kurort von 1865 bis 1937, von Christoph Georg Rohrbach, enthalten in Schriftenreihe der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 2020, S. 313–346; Herausgegeben von A. Karenberg und K. Haack, Verlag Königshausen & Neumann Würzburg.
Materialsammlung Krause zur Geschichte der Psychiatrie in Blankenburg, Dr. med. Wolf-Rainer Krause, Chefarzt a. D. der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Blankenburg (Harz).
Bilder
Postkarte von der Müller-Rehmschen Anstalte 1909, „Blankenburg in alten Ansichten“, von Hans Bauerfeind, Europäische Bibliothek – Zaltbommel/Niederlande, 1992, Bild 34.
Porträt, Quelle: https://flickr.com/photos/131265528@N03/albums/72157664180898616/with/24151763583/
Impressum
Arbeitsgemeinschaft Geschichte des Gymnasiums „Am Thie“ Blankenburg (Harz) und Team Friedhofsprojekt
Bearbeitung: Burkhard Falkner, Ulrich-Karl Engel (Team Friedhofsprojekt)
Projektleitung: Benedict Volkert
Internetpräsentation: Jörn Zuber
Für die Unterstützung bei der Erarbeitung dieser Seite danken wir Christoph Georg Rohrbach sowie Herrn Chefarzt a. D. Dr. med. Wolf-Rainer Krause.